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Der große Roman fehlt
Im Revier blüht Krimi-Kultur

(WAZ, Ressort KULTUR, 18.11.2000, Gudrun Norbisrath)

Vor wenigen Tagen erhielt das Autoren-Team Karr & Wehner den Literaturpreis Ruhrgebiet - für seine Kriminalromane. Die Wahl bezeichnet auch ein Phänomen. Denn die Autoren der Region widmen sich überwiegend und mit Erfolg nur  zwei Gattungen: Kinder- bzw. Jugendbüchern und eben Krimis.

Den großen Roman des arbeitenden Menschen hat das Ruhrgebiet bisher nicht hervorgebracht. Wo hätte er entstehen sollen, wenn nicht hier? Max von der Grün - der einzige, der die Arbeitswelt in Romanen von einigem literarischen Rang dargestellt hat - ist verstummt. Die Krimi-Kultur aber blüht, gepflegt von Autoren wie Gabriella Wollenhaupt und Sabine Deitmer, Peter Schmidt, Reinhard Jahn (Karr) und Walter Wehner.

Möglich, dass Autoren glauben, modern und weitsichtig zu handeln, wenn sie sich dem Kriminalroman zuwenden. Der Verkaufserfolg gibt ihnen recht - ein künstlerisches Anliegen aber lässt solche Orientierung nicht erkennen.  Soll man etwa Bodenständigkeit, ein womöglich Revier-eigentümliches Verharren ganz hart an der Realität hinter der Beschränkung auf eine  traditionell nicht eben hoch eingeschätzte  Literaturgattung vermuten?

Das wäre doch wohl ein Mangel an Selbstbewusstsein, auch eine erschreckende  Missachtung gegenüber der Region, in der diese Literatur angesiedelt ist und die sie spiegelt. Beides wäre allerdings wenig verwunderlich; das Selbstbewusstsein ist im Ruhrgebiet auf vielen Gebieten gering.

Die kleingeistige Selbsteinschätzung der Literatur hat Tradition. Von der Grün war es, der den bitteren Satz prägte: Ein Schriftsteller wohnt nicht in einem Industriegebiet - da äußerte sich manche Enttäuschung. Gleichzeitig aber verwahrte sich der Autor dagegen, als Arbeiterdichter zu gelten: Er wollte - ja, irgendwie mehr sein.
Als wäre ein Arbeiterdichter nichts Richtiges.  Ohne regionale Verankerung aber ist Literatur kaum denkbar. Literatur schwebt nicht irgendwo, sie erzählt von Menschen und Orten:

Da hilft kein modischer Hinweis auf die Globalisierung. Die Krimi-Autoren wissen das, ihre Romane handeln nicht zufällig in Dortmund (Bierstadt) und Essen, sie bezeichnen exakt Straßen und Kneipen. Nähe zur Realität kann so ein Stadtplan aber nur oberflächlich erzeugen, literarische Qualität gar nicht.

Die Literatur hat es im Ruhrgebiet sehr  schwer. Hier musste dafür erst Raum geschaffen werden, gegen manches bürgerliche Vorurteil.  Wo das Umfeld als kulturarm galt, konnte eine eigene Literatur kaum ernst genommen werden. Diese Versuche waren von vornherein dem Lächeln der Gebildeten preisgegeben. Es ist  deshalb gar nicht hoch genug zu schätzen, was    die Gruppe 61, was die Förderer jeder Art von Arbeiterliteratur hier geleistet haben.

Inzwischen hat sich die alte, von Industriearbeit geprägte Bevölkerung ergänzt durch Vertreter aller Schichten. Sie dürften nicht nur Museums-, Konzert- und Theaterbesucher sein. Es sollten sich Talente darunter finden, die bereit sind, die Gesellschaft zu porträtieren, in der sie leben. Es gibt sie auch, doch das alte Minderwertigkeitsgefühl sorgt immer noch für merkwürdige Hemmungen.

Da ist Ralf Rothmann, ein begabter Autor. Er  beschreibt das Ruhrgebiet treffend - aber es ist das Revier von gestern, der 50er, der 70er Jahre. Diese Literatur liefert genau das nostalgisch-verklärte Klischee, das mit dem Ruhrgebiet von heute nichts zu tun hat.

Die Literatur des Ruhrgebiets braucht einen Schub. Eine Region im Aufbruch, in starker Veränderung; ein Land, in dem über die  Identität nachgedacht wird: Hier sollte es  eine Literatur geben, die die eigenen Wurzeln wie den Wandel reflektiert. Dazu braucht es Selbstbewusstsein, ch der Autoren. Das Ruhrgebiet hätte seinen großen Roman, seine weit ausstrahlende Erzählung verdient.
Gudrun Norbisrath